Wo genau Vil geboren wurde, weiß er nicht, aber es muss wohl in oder um Junkyard Parish gewesen sein, denn dort war es, wo er gefunden wurde. Jener Finder war guten Herzens, und so ließ er das Kind nicht im Dreck des Wegs liegen, sondern verkaufte ihn an den Händler Winston Henks, einen ebenso korpulenten wie gefährlichen Mann, dem die Hälfte aller Einwohner und jede Waffe, Maschine und Hütte des Dorfes gehörte. Dass seine Autorität nicht in Frage gestellt wurde, lag wohl hauptsächlich an den 4 Lobtys, wie Henks sie liebevoll nannte – lobotomisierte Mutanten, so munkelte man, die übermenschliche Kraft besaßen und von furchtbarer Erscheinung waren. Die Lobtys bewachten Junkyard Parish vor allen drohenden Gefahren, seien es Raider oder Cascadios. Die meisten Einwohner des Dorfes am Emiction River hatten sich mit ihrer Unfreiheit abgefunden, da sie ohnehin in den Fesseln ihres eigenen Geistes lagen. So herrschte erzwungener, jedoch nicht unbeliebter Frieden unter Winston Jenks‘ Herrschaft.
Shed some light by ~lovesjunkie / www.deviantart.comDas sollte sich ändern, als Vil in etwa zwölf Jahre alt wurde. Der Junge war, kein treffenderes Wort bietet sich, anders. Sein Haar war dunkel, nicht strohblond wie das der meisten Dorfbewohner; seine Augen waren von so dunklem Blau, dass es bei schwacher Beleuchtung wie schwarz schien; die Statur war viel schlanker, das Gesicht schmaler, ja die Stimme klanglich vollkommen verschieden von den anderen Menschen in Junkyard Parish. Es ist aber nicht so, als ob das jemandem aufgefallen wäre, denn wie die anderen Sklaven arbeitete er Tag für Tag stumpf vor sich hin. Das heißt – niemand fiel es auf außer einer Frau. Ihr Name war Keїn. Vil wusste nicht wieso, doch sie besaß eine Sonderrolle im Dorf. Sie war die einzige Person, zu der Henks freundlich war, doch sie schien ihn mit jedem Blick zu verfluchen. Sie brauchte nicht zu arbeiten; auch musste sie nie in das Haus in der Mitte des Dorfes, aus dem nachts immer Schreie klangen, wenn Fremde zu Besuch waren. Das unterschied sie von allen anderen Frauen von Junkyard Parish.
Als Vil an einem grauen Herbsttag wie an jedem anderen eben damit beginnen wollte, verschossene Patronen auf Beschädigungen zu untersuchen und sie zu sortieren, stand Keїn neben ihm. „Komm mit“ murmelte sie und brachte den perplexen Jungen in ihr Haus. Da war... das musste ein Tisch sein! Er hatte gehört, dass die reichen Leute nicht am Boden aßen. Da war sogar ein, wie sagte man, Teller? Und in der Ecke des geräumigen Zimmers stand ein Bett. Ehrfürchtig blieb Vil stehen, bis sein fragender Blick zu der Frau wanderte. Sie lachte ob seines Gesichtsausdrucks. „Glaub mir, der Kram hier ist Gift,“ sagte sie vergnügt, „du verlernst das Leben in der Wildnis.“ Vil schwieg. „Na schön, mein Junge. Du fragst dich wohl, was ich von dir will – und diese Frage ist völlig berechtigt.“ Sie machte eine kurze Pause. „Doch zuvor finde ich, wir sollten uns vorstellen. Mein Name ist Keїn.“ „Warum musst du nicht arbeiten?“ Einen Augenblick lang sah sie ihn traurig an, dann grinste sie breit. „Da hat wohl jemand keine Manieren… nun, woher auch. Daran werden wir arbeiten. Wie an so vielem…“ Sie kicherte. „Ich weiß ohnehin wie du heißt. Hast dir diesen Namen selbst gegeben, eh?“ „Ja.“ „Nun, ich gebe dir nun noch einen weiteren Namen. Man nennt das Nachnamen. Hm… Profilbas. Das heißt so viel wie kurz angebunden in irgendeiner Sprache. Oliver ‚Vil‘ Profilbas, es ist mir eine Freude!“ rief sie und schüttelte Vils Hand, welcher die Stirn runzelte.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. „Du musst jetzt verschwinden,“ murmelte die Frau leise, während sie ihn zum Hintereingang schob. „Hör zu. Morgen nach der Essenspause zählst du bis 600, dann schleichst du vor Henks‘ Haus.“ „Aber dann erwischt er mich doch!“ „Keine Sorge. Verschwinde jetzt!“ In dem Moment, da Vil hinaus huschte, hörte er die Vordertür aufgehen. Er glaubte Henks‘ Stimme zu hören…
Sich fragend, warum er eigentlich gerade dabei war Selbstmord zu begehen, schlich Vil am nächsten Tag nach dem Essen vor Henks‘ Haus, nachdem er gezählt hatte. Dort traf er tatsächlich Keїn, und es folgte das erste der zahlreichen Gespräche, die in den nächsten Jahren folgen sollten und in denen sie ihm von Dingen, von Orten, von Menschen und Zeitaltern erzählte. Dort, auf dem schmutzigen Boden vor Henks‘ aus Schrottteilen gezimmertem Haus, ständig in der Angst, dessen Besitzer könnte kommen oder seine Schergen, die ‚Lobtys‘, lernte Vil träumen.
Von diesem Zeitpunkt an hatte das Leben des Jungen aus Junkyard Parish, der so anders war, einen Funken dessen, was man Sinn oder Inhalt nennen könnte. Seine Arbeit verlor ihre Sinnlosigkeit, als er begann zu verstehen, wie Henks im großen Stil jede Patrone, die irgendjemand fand, reparieren und neu mit Schießpulver füllen ließ. Es dauerte nicht lange, bis der Händler Vils Intelligenz und Geschick bemerkte und diesen einmal in der Woche mit einer lumpigen 9mm-Pistole schießen üben ließ. Gleichzeitig übertrug Keїn schrittweise all ihr Wissen auf Profilbas, wie sie ihn nannte.
Diese Zeit hatte ein Ende, als eines Winters die Nahrung auszugehen begann. Henks ließ alle Tage wieder einen Sklaven erschießen oder verordnete diesen Hungertage, um seinen Bedarf zu decken. Den Menschen ging es schlechter denn je. Als Vil und Keїn sich eines bitterkalten Tages trafen, sah sie ihn lange ernst an, bevor sie sagte: „Profilbas – ich muss dir etwas gestehen. Als ich zu dir kam, vor sieben Jahren, hatte das zwei Gründe. Keiner davon war Sympathie, auch wenn du mir sympathisch warst. Um es kurz zu machen – erstens: du bist ein Mutant. Denk später darüber nach. Zweitens – schau, Henks… du hast es ja mitbekommen. Ich ahnte, dass es einmal soweit kommen würde. Oliver, du sollst Henks töten.“
Vil fand in dieser Nacht keinen Schlaf, konnte kaum begreifen. Am Ende des Gesprächs hatte Keїn dem Jungen noch eingebläut, nichts zu unternehmen, bis sie ihm von ihrem Plan erzählte. Also versuchte er normal zu wirken. Die nächsten Tage waren hart, denn es gab nichts an Nahrung außer dem, was Henks in seinem Haus hortete. Vier Sklaven verhungerten, einer wurde erschossen, weil er sich geweigert hatte zu arbeiten. Vil stand es irgendwie durch. Seine Verwirrung stieg noch, als Keїn sich nicht mehr mit ihm treffen wollte. Die Welt schien sich zu schnell zu verändern, um zu folgen.
In der dritten Nacht seit dem Gespräch mit Keїn hatte Vil sich gerade auf den gefrorenen Staub gelegt um zu schlafen, als er von Keїns Hütte einen Schrei hörte. Sofort sprang er auf und lief hin. Keiner der Sklaven neben ihn sah ihm nach. Nach einer halben Minute bergauf durch den Nieselregen kam er keuchend an. Aus der Hütte waren inzwischen nur noch gedämpfte Schmerzensschreie zu hören. Vil riss die Hintertür auf und keuchte atemlos auf ob des Anblicks, der sich ihm bot. Keїn lag in unnatürlicher Stellung am Bauch auf dem Bett, die Hand- und Fußgelenke mit Drahtseilen angebunden. Sie war nackt, ebenso wie Henks, der ihr zu- und Vil abgewandt, gerade ihre Hüfte packte. „Winston, Ich will nicht!“ schrie sie, halb wütend, halb verzweifelt. Henks lachte spöttisch. „Das ist mir so scheißegal, Süße. Jetzt hör auf dich zu wehren, sonst tust du dir noch weh.“ Die Frau schrie, als er näher kam. „ICH HASSE DICH!!“
Er hielt inne. Ließ sie los. Holte einen Gegenstand, der zuvor neben der Eingangstür gelehnt hatte. Ein Baseballschläger. Holte aus.
Spuckte Blut. Schrie wie am Spieß, als er die Daumen zu spüren begann, die sich seitlich in seine Halsschlagader gebohrt hatten. Griff nach hinten, packte Vil, schleuderte ihn zu Boden, schlug ihn mit dem Baseballschläger, schlug ihn wieder, schlug ihn wieder, die Blutfontänen aus seinem Hals ignorierend. Schlug solange, bis er, vom Blutverlust bleich geworden in die Knie ging... und schließlich seitlich umkippte. Die Augen waren starr.
Vils Erinnerung bezüglich der nächsten Stunden ist äußerst vage… War es möglich, mit dutzenden Knochenbrüchen aufzustehen? Drahtfesseln zu zerreißen? Eine Tür einschlagen, hundert Kilo Lebensmittel auf die Straße zu werfen? Mit einem Sammelsurium gestohlener Gegenstände, darunter eine geladene Schrotflinte, zu dem Haus, aus dem immer die Schreie kamen, zu marschieren, die sechs dort beschäftigten Menschen und anschließend die drei Arschkriecher, die immer so stolz Befehle gebrüllt hatten, zu erschießen? Den Lobtys zu entkommen, die durch Henks‘ Tod in den Wahnsinn getrieben wurden… bis man schließlich rund 25 Kilometer vom Dorf entfernt zusammenbrach… Vil glaubt es nicht.
Jahrelang war der Mutant in der Wildnis unterwegs, wo er sich besser kennen lernte. Offensichtlich waren starke Emotionen in der Lage, ihn in erstaunliche Zustände zu versetzen. Er war zäh und von an Fanatismus grenzender Sturheit, die ihn nach vielen Stunden der Jagd doch noch das Wild erlegen oder ihn nach drei Tagen durch den Emiction Swamp den ihn verfolgenden Raidern entkommen ließ. Doch während Vils körperliche Fähigkeiten immer erstaunlicher wurden, verkümmerten seine sozialen. Er wurde einzelgängerisch, misstrauisch und wortkarg. Dörfer, in denen sich ein Bordell befand, betrat er niemals.
Nach eineinhalb Jahren in der Wildnis kam Vil in ein Gebiet, das gegenwärtig unter einer Bände von selbsternannten 'Soldaten', die ein Fort errichtet hatten und nun systematisch die Frauen der umliegenden Dörfer dorthin verschleppte.
Umgehend begann Vil mit Angriffen aus dem Hinterhalt, aus der Entfernung oder wenn die Männer betrunken waren. Bald wurde dem Anführer der Bande klar, dass er es mit einem einzelnen Mann zu tun hatte, und er durchsuchte die gesamte Gegend. Der Siebzehnjährige wurde übersehen.
Wochenlang zog sich den Konflikt hin. Als in den Dörfern bekannt wurde, dass die Bande nicht so allmächtig war wie geglaubt, begehrten täglich neue Männer auf, bewaffneten sich leidlich und nahmen den Kampf auf. Schließlich kam es zu einer Entscheidungsschlacht in den Straßen des größten Dorfes, Kiston. Obgleich Vil schwere Verletzungen davontrug, gelang es ihm schließlich den Anführer zu töten. Nachdem er diesem Waffen, Munition und die beeindruckende kugelsichere Weste abgenommen hatte, verließ er Kiston, bevor den Bewohnern klar wurde, was der dünne junge Mann für sie getan hatte.
Vil war ein ausgewachsener Mann, als er gerade spätnachts in einer versifften Bar saß und sich eine junge, offensichtlich sturzbetrunkene Frau plötzlich an seiner Hose zu schaffen machte. Blitzartig zuckten vor ihm Bilder auf, die er verdrängt hatte – er stieß die Frau weg und verließ sofort das Dorf… Dieses verstörende Wiederhochkommen des Erlebten rüttelte Oliver endlich wach. Am kalten Asphalt knieend schrie er all seine Wut in die Nacht, hämmerte mit den Fäusten auf den Boden ein, weinte. Nach Stunden hatte er sich beruhigt, und ihm wurde klar, dass sein Leben nun eine neue Richtung einschlagen würde. Keїn hatte ihm oft von Orten erzählt, die sie lächelnd Utopia nannte und die sich von diesem Ort abhoben wie die Wolken. Und Vil wusste: er wollte so einen Ort schaffen. Anschließend wollte er diesen hier brennen sehen. Und wenn jemand so böse war wie Henks, dann gab es für diesen Menschen nur eine gerechte Strafe.
Vil stand auf.